Buchbesprechung zu Winker, Care Revolution, Bielefeld 2015

Berlin-Mitte, im August 2015

Buchbesprechung – Zur Krise der Carearbeit in einem reichen Land

Winker, Gabriele, Care Revolution – Schritte in eine solidarische Gesellschaft, transcript Verlag, Bielefeld 2015 (11,99 €)

Gabriele Winker stellt mit diesem kompakten Buch eine weitsichtige Perspektive auf eine solidarische Gesellschaft in Aussicht, indem sie die Sorgearbeit komplett in ihren Gesellschaftsentwurf einbezieht!

Winkers Buch, fast pünktlich zum diesjährigen Internationalen Frauentag am 8. März 2015 erschienen, beschreibt auf 182 Textseiten ausführlich und kapitelweise voranschreitend die Ressource Care-Arbeit in der heutigen kapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft und wie damit umgegangen wird. Vor allem, weil Sorgearbeit auf dem Arbeitsmarkt als abgeleistet und erfolgreich getan vorausgesetzt, aber nicht gerecht entlohnt wird und zudem der Staat das Ziel, Dienstleistungen zur Daseinsvorsorge weiter auszubauen, nicht weiter unterstützt.

Sorgearbeit und Carearbeit verwendet sie gleichbedeutend für alle Tätigkeiten, die der eigenen Existenzsicherung und der der Anderen dienen, also Aufgaben der Erziehung, der Bildung, der Gesundheit und der Pflege.

Anhand ihres feministisch-kapitalismuskritischen Ansatzes, bei dem sie sich unmittelbar auf den Marxschen Arbeitsbegriff bezieht und entlang des Ansatzes der Intersektionalität, den sie gemeinsam mit Nina Degele ausarbeitete, liefert sie eine umfassende Untersuchung zur Carearbeit und zur Care-Revolution.

Als lohnenswerte und lesenswürdige Mühe erscheint mir vor allem die genaue Inaugenscheinnahme der aktuellen gesetzlichen Regelungen im Bereich der Pflege-, Familien und Sozialpolitik. Eindeutig nachweisbar sind die systematischen Defizite der gesetzlichen Bemessungen und Anspruchsvorausetzungen! Feministinnen haben diese oft genug öffentlich angeprangert, denn die Vorschriften der Gesetze sind sozial gemeint, schließen aber auf typische Weise aus und verschärfen manche Exklusionen!

Daher fallen Frauen weiterhin durch die prinzipielle Lohnzentrierung der Sozialsysteme und die Modernisierung der Scheidungsgesetze seit 2008 vermehrt aus den Sicherungssystemen heraus.

Hier macht sich außerdem nicht nur der Lissabon-Vertrag der EU aus dem Jahr 2000 bemerkbar, sondern auch die EU-Wachstumsstrategie ab dem Jahr 2005, mit der noch mehr Frauen in die ökonomische Unabhängigkeit durch eigene Erwerbstätigkeit gelenkt werden sollen.

Die Details zum neuen Unterhaltsrecht für Frauen nach Scheidungen, zur Verrechnung des Elterngeldes und außerdem zur Verrechnung des Kindergeldes für Eltern, die Alg2 nach SGB II beziehen, daneben auch zum Beispiel die Ansprüche nach dem Teil-Kasko-Prinzip unterhalb der Bedarfsdeckung in der Pflegeversicherung nachzulesen, ist sehr erhellend. Die konkreten Einzelheiten der Gesetze und deren Auswirkungen auf die Frauen in der Mitte des Lebens öffnen die Augen für diejenigen Konsequenzen, denen insbesondere Mütter nach dem Adult-Worker-Prinzip ausgesetzt werden. Dass die Sozialpolitik selbst zudem die Nachteile der Frauen typisch verschärft, wird nachlesbar schlüssig vorgetragen.

In Kapitel 3 und 4 widmet sie sich der Analyse der privaten und der öffentlichen Carearbeit.

Sie unterscheidet zunächst in Kapitel 3 vier Strategien der Reproduktion in Familien mit minderjährigen Kindern und widmet sich der empirischen Untersuchung von Zeitnot und Existenzunsicherheit bei Familien anhand aktueller statistischer Daten.

Sie grenzt diese vier Strategien danach ab, wie diese von Familien durch ihre Zeitbudgets, ihr Haushaltseinkommen und ihre Erwerbsbeteiligung gehandhabt werden, um die private Carearbeit zu leisten.

Das ökonomisierte Reproduktionsmodell (etwa 14%) beschreibt vollzeitig beschäftigte Paare mit abgesicherten und guten Einkommen, die kaum Zeit haben selbst Pflegearbeit zu leisten und daher Dienste bezahlt abgeben. Das paarzentrierte Reproduktionsmodell (etwa 38%) bezieht sich auf idealtypisch zwei berufstätige Erwachsene, wobei nicht beide vollzeitig erwerbstätig sind. In diesem Modell wird nur teilweise an Dritte delegiert, vielmehr wird ein Teil der Careabreit durch Doppelbelastung selbst erbracht. Die dritte Modellstrategie steht für das prekäre Reproduktionsmodell (etwa 29 %), das nicht unmittelbar als armutsgefährdet dasteht, aber über nicht ausreichende Haushaltseinkommen verfügt. Hierunter befinden sich viele Alleinerziehend und Alleinverdienerfamilien. Das vierte und letzte der Reproduktionstypen ist das subsistenzorientierte Modell (fast 20 %), unter das die Alg2-EmpfängerInnen und AufstockerInnen fallen, Menschen, die sich unter dem existensichernden Lohn auf dem Arbeitsmarkt anbieten müssen.

Gabriele Winker kommt zu dem Schluss, dass alle in dieser Typologie benannten Modelle keine Lösung ohne Überforderung und Fehlbelastung der Beteiligten bieten und alle Modelle zu widersprüchlichen Anforderungen an die Individuen und vor allem an die Frauen führen – und daher für das stressfreie Leben und die Careaufgaben zu kurz greifen.

Ebenso kommt sie bei der Untersuchung der professionell in Care-Branchen Tätigen (heute fast ein Fünftel aller Erwerbstätigen) zur Feststellung von systematischen Überforderungen und Unterbezahlungen. Das sind Tatbestände, die durchaus bekannt sind und schon diskutiert werden. Hier münden sie zudem über eine umfassende Analyse in Winkers weit greifende Überlegungen der Umstrukturierung der Arbeitsgesellschaft ein.

Sie nimmt mit Hilfe des intersektionalen Ansatzes den Gesundheitsbereich in Augenschein und beschreibt die Einsparung von 25% aller Betten bei 25%igem Anstieg der Patientenzahlen in den 20 Jahren zwischen 1991 und 2011. Hier also wurden bei nominal und prozentual steigenden Pflegekosten auch erweiterte Care-Anforderungen an private Haushalte weitergegeben. Mindestbesetzungen in den Kliniken erscheinen hier als ein Lösungsweg.

Wiederum am Marxschen Arbeitsbegriff orientiert, stellt sie die Zielmarke einer solidarischen Gesellschaft mit der demokratischen Vernetzung von Care-Initiativen allerorten in den Mittelpunkt. Sie entwirft die Zukunft eines Ausbaus und Umbaus des Care-Sektors, der die Logik des Kapitals und des Privateigentums außer Kraft setzen soll. Dezentrale und basisdemokratische Initiativen, vernetzt und geleitet von überregional wirkenden Care-Räten werden als Vehikel für eine bessere Zukunft aufgerufen.

Aber wer garantiert uns ein flächendeckend-nationales und solidarisches, demokratisches Care-Initiativen-Netzwerk? Wo sind all diejenigen, die Kinderläden in den 60ern und gemeinnützige Firmen in den 70ern gründeten und noch heute vor Ort offline tätig sind, die nun allerorten Care-Startups und 60-plus-Läden gründen könnten, sollten und müssten? (rs)

Zum Themenkomplex auch interessant zu lesen ist die am 22.8.2016 erschienene Publikation

Bartmann, Christoph, Das neue Bürgertum und sein Personal
288 Seiten, (Hanser Verlag) München 2016, Fester Einband
ISBN 978-3-446-25287-5, ePUB-Format ISBN 978-3-446-25424-4

(rs)

 


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